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»VOCA BU LAR«

ERIKA KRAUSE

27.10.21 - 14.01.22
ERIKA KRAUSE »VOCA BU LAR« in GE59ERIKA KRAUSE »VOCA BU LAR« in GE59ERIKA KRAUSE »VOCA BU LAR« in GE59ERIKA KRAUSE »VOCA BU LAR« in GE59

Erika Krause ist eine Künstlerin der Linien. Doch wenn Krauses unbekannte Schrift sich nur einer intuitiven Lektüre erschließt (Menschen haben einen Hang zu lesen, was nie geschrieben wurde – von Handflächen bis hin zu Sternbildern), da machte die Linie in den Wissenschaften als Übersetzung studierbar, was sich dem Register des Sehens entzieht.

Infrarotlicht, Röntgenstrahlen und elektromagnetische Felder – die modernen Naturwissen- schaften hatten bereits eine beträchtliche Zahl unsichtbarer Kräfte entdeckt, als Hilma af Klint 1906 das erste abstrakte Bild malte, von dem die Kunstgeschichte weiß. Jene fand in der ungegenständlichen Malerei ein Medium der Repräsentationen gewisser übersinnlicher Kräfte, die der Wissenschaft immer verborgen bleiben würden. Seit ihrer Entstehung Anfang des 20. Jahrhunderts schlägt die abstrakte Malerei Brücken zwischen den Zeiten. Sie tritt auf als Repräsentation des Nichtvisuellen (wie bei af Klint und Kandinsky), oder als Medium eines spontanen Selbstausdrucks, wie in den Werken des Abstrakten Expressionismus. Wo sich die Hand Cy Twomblys (ein Vertreter des letzteren) eigendynamisch über große Leinwände bewegte, da entspringen die Pinselzüge Erika Krauses einem Drahtseilakt zwischen Askese und Spiel. Ihre Kompositionen sind kalligraphisch in einer Zeit, in der wir unsere Handschrift verlieren; und sie sind seismographisch in ihrer Niederschrift mentaler Verfasstheiten, wie sie sich über die pinsel-verlängerten Fingerspitzen ihrer Hand mitteilen.

Selbst im Zustand der Ruhe ist der menschliche Körper voller Rhythmen – in Atem, Herz- schlag und Puls. Dem Naturwissenschaftler Etienne-Jules Marey gelang es Ende des 19. Jahr- hunderts die elektrische Erregung im Herzen als jene spitze Wellen graphisch abzubilden, die uns heute als EKG bekannt sind. Marey war es auch, der die zierlichen Schlaufen, welche die Spitze eines Vogelflügels in die Luft zeichnet, mittels Chronophotographie erfasste. In manchen Bildern Krauses, die in einem Refugium inmitten der Natur entstehen, scheinen diese Flügelschläge träumend nachzuklingen.

Im Geiste der Rationalisierung, den das 20. Jahrhundert ebenso hervorbrachte wie die abstrakte Kunst, studierte Frank Gilbreth nicht mehr Vögel am Himmel, sondern menschliche Bewegungsabläufe in repetitiven Arbeitsabläufen. Sein Ziel war es, jede Bewegung zu eliminieren, die nicht dem Arbeitsfortschritt diente. Heute patentieren Interface-Entwickler unsere Gesten und wir erschließen den Raum entlang der blauen Linien von GoogleMaps, während unsere Entscheidungen algorithmisch antizipiert werden. Entgegen unseres täglichen Konsums einer mit manipulativen Appellen gesättigten Bildwelt wirkt abstrakte Kunst antiillusionistisch – und dadurch letztlich antiideologisch.

Mit sensibel austarierten Abstraktionen schafft Krause Strukturen, die sich Regimen des vorwegnehmenden Wiedererkennens und der Determination auf festgelegte Bedeutungen widersetzen. Sie üben eine Praxis des Einfühlens, die uns über die Rhythmen der Bilder – in der Flugbahn eines Boomerangs – zurück in unseren eigenen Körper führt.

Text: Katharina Weinstock, Kunstwissenschaftlerin, Medienphilosophin, Kuratorin und freie Autorin

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